Donnerstag, 6. Januar 2011

Alltag an der Strecke - Botho Walldorfs Fotografien von der Hohenzollerischen Landesbahn sowie von der Eisenbahn um Reutlingen und Tübingen (1960 -197

Anlässlich des Jubiläums "150 Jahre Eisenbahn in Wannweil 1861 - 2011" findet im Rathaus Wannweil eine Fotoausstellung "Alltag an der Strecke - Botho Walldorfs Fotografien von der Hohenzollerischen Landesbahn 1960 - 1970" statt. Alle dargestellten Bahnfahrzeuge sind schon durch Wannweil gefahren. Unterstützt wird das Vorhaben durch das Team BILDERTANZ WANNWEIL, welches im November 2007 mit seinen "24 Stunden von Wannweil" erstmals an die Öffentlichkeit trat.

Ein gut funktionierendes Gemeindearchiv ist immer bei Jubiläen gefragt. So hat ein heute unbekannter Verfasser im August 1950 folgenden Artikel im Reutlinger Generalanzeiger veröffentlicht, den B. Walldorf aktualisiert hat.

"Die Bahn und Wannweil" Lange Jahre ohne Bahnhof - Auch heute nur ein "Schuppen"

1856 wurde erstmals in der Gemeinde von einem kommenden Eisenbahnbau gesprochen. Warum hat Wannweil als Gemeinde mit 2 500 Einwohnern (im Jahre 1950) noch keinen richtigen Bahnhof? Das kann man aus folgendem nachvollziehen: Im Jahr 1856 hat die Gemeinde, so entnehmen wir den (in verschiedenen Akten vorhandenen) Aufschrieben auf dem Rathaus, 60 Eichen für Bahnbauzwecke verkauft. Sie wollte ihre Schuldenlast verkleinern. Diese rührte besonders von dem schlechten Jahr 1853 her. Ein nasses Frühjahr, furchtbares Hochwasser und unendlich viel Hagelschlag hatten die Felderträge vernichtet. Allein das Hochwasser hatte 250 Gulden Brückenschaden gebracht. Not und Hunger waren so groß, dass die Gemeinde im Backhaus eine "Suppenanstalt" einrichten musste. Das Backhaus stand vor der Kirche. Es wurde um 1890 abgebrochen, als die Johanneskirche erweitert wurde. (Freundliche Auskunft von W. Ott, 20.12.2010). Köchin war die Frau des (Johannes) Wollpert, Leiter war Gemeinderat Brucklacher. Es mussten in Wannweil täglich 85 Personen aus öffentlichen Mitteln gespeist werden, das kostete 1400 Gulden. Dazuhin mussten viele Steuern erlassen werden. Um die Gesamtschulden von 10 000 Gulden zu verringern, wurden 50 Morgen Wald im Burghau ausgestockt. Um einigermaßen wieder auf das Laufende zu kommen, zog die Gemeinde den zehnten Teil der Ernte von 1854 an sich und verkaufte den Ertrag. Auf diesem Hintergrund schlechtester Finanzlage muss man den Bahnbau betrachten. Martin Ott, Georg Gaiser, Martin Digel, drei Söhne von Sägmüller Kern, Jakob Gaiser, Jakob Mayer, Barbara Mayer, Johann Georg Digel, Martin Wollpert, Johann Georg Walz, Veit Zeeb mit seinen 8 Kindern, Friederike Walz, Jakob Digel wanderten in diesen Jahren nach Amerika aus (Quelle: Auswandererlisten, die im "Findbuch" benannt werden). Von einem Holzhieb waren 6200 Gulden übrig, 19 Morgen Wald wurden nun als Ackerland benützt, der Umbruch kostete 1254 Gulden. Mit Freuden wurden Nachfragen nach Fabrikgelände aufgenommen. An Kaufmann Wilhelm Fink aus Reutlingen verkaufte man den Eberacker mit über 2 Morgen. Dieses Grundstück, auf dem nicht gebaut wurde, bildet heute das Gelände der Spinnerei und Weberei, erbaut von Hartmann & Seemann. Geschlossen 1987, seitdem ist die Holy-AG in Metzingen Besitzer, auch 2010. Nutzungsänderungen stehen an. Nun kam als weitere willkommene Gelegenheit der Bahnbau und damit ein Geländeverkauf mit 468 Gulden 53 Kreuzer Ertrag.
Am 15. Oktober 1861 wurde die Bahnstrecke eröffnet. Wannweil erhielt keinen Haltepunkt. Wannweils Bahnhof war - "Wannweil-Kirchentellinsfurt", der auf Wannweiler Markung lag. Seit etwa 2005 wird das steinerne Bahnhofsgebäude von 1861 vom Musikverein Kirchentellinsfurt genutzt. Erst im sogenannten "Dritten Reich" wurde dieses Markungsstück (das sogenannte "Täle") 1936 durch Diktat von Stuttgart enteignet und Kirchentellinsfurt zugeteilt. 1868 wurde der Grundstein zur Spinnerei gelegt. 1870 wurde sie mit 7400 Spindeln in Betrieb genommen und so wurde immer mehr, besonders als sich 1874 noch der große Betrieb von Schirm & Mittler einrichtete, das Fehlen eines Bahnhofes als unmöglicher Zustand empfunden. 1893 wurde die Spinnerei wesentlich vergrößert. Die in Metzingen gelegene Schönfärberei Geßler wurde angegliedert und die Firma hieß nun: "Hartmann, Seemannn, Geßler & Co". 1894 verstarb jedoch schon H. Geßler und W. Seemann trat aus dem Betrieb aus. 1897 wurde unter ständiger Vergrößerung die Färberei nach Wannweil gelegt. Die Firma kaufte übrigens 1896 das alte Schulhaus in der Dorfstraße um 5600 M (seit 1875 nicht mehr Gulden, sondern Mark) Dieses Haus wurde um 1960 abgebrochen. Seitdem wird das Gelände als Parkplatz genutzt. Um die Jahrhundertwende hatte Wannweil immer noch keinen Haltepunkt. Das Jahr 1900 brachte aber den zweigleisigen Ausbau der Bahnstrecke von Plochingen bis Tübingen. Nun war die Haltestelle spruchreif. Aber es wurde eben eine Haltestelle und kein Bahnhof, da derselbe ja in Kirchentellinsfurt stand. Die Forderungen der Königlich Württembergischen Staatseisenbahn (KWStE) beliefen sich auf rund 9 000 bis 10000 M an die Gemeinde. Um 1900 hatte Wannweil 1300 Einwohner. 1902 war es dann soweit, nachdem eine Zeitlang bei Schirm & Mittler eine Aussteigemöglichkeit bestand (genannt: Haltestelle für Lokalzüge, Wärterhaus 45) Die Forderungen der Bahn hatten sich inzwischen auf 20 000 Mark erhöht, eine Summe, die angesichts eines Schuldenstandes von 66 000 Mark viel bedeutete. Wohl oder übel musste der Gemeinderat den Betrag genehmigen, denn eine Haltestelle war zur Lebensfrage geworden, da viele Arbeitskräfte von auswärts kamen. Trotz des enormen Betrages wurde nur ein besserer "Schuppen" erbaut, wie es in den archivierten Quellen heißt. Am 20. Aug. 1903 wurden die 20 000.Mark bezahlt. Nun handelte es sich um die Errichtung eines Abstellgleises für die Ausladung der Güter. Schließlich wollten ja nicht nur Personen ein- und aussteigen, sondern auch die Güter nicht in Kirchentellinsfurt mit Pferdegespannen abgeholt werden. Zu dem Gleisanschluß des Verladeplatzes musste die Spinnerei, die jetzt Hartmann & Co hieß, weitere 28 000 Mark beisteuern, so dass für den Haltepunkt Wannweil nicht weniger als 48 000 Mark aufgebracht wurden. Der Schuldenstand der Gemeinde wuchs dadurch auf 80 000 Mark. Diese hohe Schuldsumme bedrückte die Gemeindeverwaltung umso mehr, als bereits die Elektrizitätsversorgung in Sicht kam, dann ein neues Schulhaus dringendste Notwendigkeit wurde. 1909 kam dann die Elektrizität und 1910 das "neue" Schulhaus in der Eisenbahnstraße. (Dieses wurde 2009 unter Ortsbaumeisterin Dorothea Mergenthaler als Wohngebäude renoviert). 1933 wurde die Strecke bis Tübingen elektrifiziert. Alle Baureihen von Altbau-Elloks waren von nun an auch in Wannweil zu sehen. Nur interessierte das niemand. Das Jahr 1938 brachte erneute Verhandlungen mit der (seit 1920 bestehenden) Reichsbahn. Inzwischen war das Lettengebiet bebaut worden und Hunderte von Menschen waren in ihrem Erwerbsleben durch das Warten an dem Bahnübergang gehindert. Die Kinder kamen häufig spät zur Schule und mancher kam nicht mehr rechtzeitig auf den Zug, weil durch einen Gegenzug die Schranken geschlossen sein mussten und deshalb der Weg versperrt war. Der Plan ging auf eine Unterführung des Personenverkehrs hinaus. Wartezeiten bis zu einer halben Stunde waren vor dem Krieg verzeichnet worden. Die Kosten wurden vor dem Krieg auf 25 000 Mark geschätzt, davon sollte die Gemeinde die Hälfte tragen. Diese erklärte sich unter Bürgermeister Zanzinger (Dienstzeit 1932 bis 1942) bereit und so war die Durchführung eine beschlossene Sache. Die Kriegsvorbereitungen (Westwallbau) verhinderten jedoch das dringend notwendige Unternehmen, das nun in unseren Tagen wieder vom Bürgermeister aufgegriffen wurde. Bürgermeister war nun Willy Obermüller (Lebenszeit 1899 bis 1984, Dienstzeit 1949 bis 1966). Die Unterführung wurde 1954 fertiggestellt. Man hoffte (1950) gerne, dass sich diese Verhandlungen erfolgreich gestalten und dass eines Tages der "Schuppen" verschwindet und Wannweil aus einer Haltestelle zu einem richtigen Bahnhof wird, als auch äußerlich durch einen Bahnhofsbau die Bedeutung erhält, die ihm nach seiner Einwohnerzahl und seiner blühenden Industrie zukommt. Soweit der Artikel vom August 1950.
Im Kriegsjahr 1942 hatte Helmut Gaiser (1928 bis 2007) seinen Dienst als Jungwerker auf Bahnhof Wannweil aufgenommen. Am Ende seiner Laufbahn war er Bahnhofsvorstand von Tübingen. Im November 2003 stand H. Gaiser noch für ein zeitgeschichtliches Interview zur Verfügung, welches im Gemeindeboten veröffentlicht wurde. Im traufständigen Bauernhaus Wannweil, Degerschlachter Straße 5 wohnte der Lokomotivheizer Kress. Er betrieb noch eine Nebenerwerbslandwirtschaft in der 2002 abgebrochenen Doppelscheuer. Kress erlitt 1957 einen tödlichen Unfall auf einer Dampflok der Baureihe 64 auf Bahnhof Tübingen. Seine Witwe lebte noch bis etwa 1985 in diesem kaum modernisierten ehemaligen Lehenshof. Dann folgten Griechen, die in der Spinnerei einen Arbeitsplatz gefunden hatten. Seit 2005 befindet sich in dem in alten Formen erstellten Neubau eine Goldschmiede.

Erinnert sei an das "Kurbelstellwerk" und die "Abläuteglocken", die sich niemand mehr vorstellen kann. Neu sind seit Herbst 2010 Lautsprecher und Informationen in Leuchtschrift, damit die Fahrgäste bei Unregelmäßigkeiten des Bahnbetriebs informiert werden können.

Um 1985 wurde Wannweil zu einer unbesetzten Haltestelle. Die mechanischen Ein- und Ausfahrtsignale wurden um 1975 durch Lichtsignale ersetzt, die Schranken automatisiert. Das Bahnhofsgebäude war bahnbetrieblich nicht mehr notwendig. 2002 wurde ein Verkehrsverbund gegründet, der den Produktnamen NALDO (Neckar-Alb-Donau) bekam. Das zog eine neue Generation von Fahrkartenautomaten nach sich. Um 2003 erwarb die DLRG-Ortsgruppe Wannweil das Bahnhofsgebäude. Es wurde ehrenamtlich vorbildlich renoviert. Heute ist es ein ortsbildprägendes Beispiel der Bahnhofsarchitektur um 1900. So ändert sich die Wertschätzung eines Bauwerks im Laufe von Generationen. Das Gelände der ehemaligen, einst mit Leben erfüllten Ladestraße wird nicht mehr genutzt. Ohne großen Aufhebens wurde das Abstellgleis wieder entfernt, welches um 1900 ersehnt war. Um 1985 wurden die ersten Fahrkartenautomaten aufgestellt, die im Juli 2010 durch eine neue Generation ersetzt wurden. Gleichzeitig wurde der zweite Fahrkartenautomat eingespart. Im Vergleich zu den 1930er Jahren, wo manchmal Fabrikarbeiter ihre Mittagspause im Wartesaal verbrachten, ist der Bahnhof Wannweil heute kein Gebiet mit Aufenthaltsqualität mehr.


Fast alle gängigen Ellok-Typen haben seit der Elektrifizierung im Jahre 1933 den Bahnhof Wannweil durchfahren. Hier sehen wir eine E 94 ("deutsches Krokodil") bei den Gärten in der Au. Im Hintergrund die Fabrikanlagen von Leuze & Rilling. Die Shed-Dachbauten wurden 1874 erbaut und 1981 durch den Musikverein Wannweil abgebrochen. Der 1899 erbaute Pferdestall ist hier sichtbar. Er erinnert an die Zeit vor der Motorisierung, als alle Transporte vom Bahn-Anschlussgleis mit Pferdegespannen durchgeführt wurden. Am 30. November 1994 wurde das Gebäude abgebrochen. In den Wohnungen haben jahrzehntelang Ausländer gewohnt. Ein neuer Fabrikbau wurde an dessen Stelle aufgeführt, der 2011 die Firma Spritzgussa beherbergt. Foto vom Juli 1978 von Burkhard G. Wollny.




Bahnhof Wannweil in der 70-er Jahren, noch mit Abstellgleis

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