Vor kurzem lud das Team von der "Begegnung am Mittwoch" zum Zeitzeugengespräch zum Thema "Wannweil um 1950" ein. Der Einladung waren trotz Hitze eine ganze Anzahl älterer Mitbürger gefolgt. Auch Exponate aus den 1950ern, ein Radio mit "magischem Auge" und ein Plattenspieler, stimmten auf diese Epoche ein.
In einer eindrucksvollen Andacht verglich Pfarrer Eberhard Gläser jun. (Jahrgang 1953, seit 2003 in Wannweil) das halbvolle mit dem halbleeren Glas. Es war ein Bild für die unterschidliche Bewertung ein und derselben Wirklichkeit. So verglich er auch das Leben mit einer Schatzkiste, die aus jedem Lebensalter etwas enthält.
Ältester Zeitzeuge war der Pfarrerssohn Gerhard Bausch, Jahrgang 1927. Katzengeburten, Mausfamilien und Hornissen hat er im efeuberankten Pfarrhaus erlebt. Die Amtszeit des Vaters dauerte von 1936 bis 1947. Auch zur "Boten-Christin" im Kusterdinger Weg wurde der kleine Gerhard immer wieder geschickt.
G. Bausch und sein zwei Jahre älterer Bruder Albrecht wählten beide den Beruf des Pfarrers. Nach ihren Glaubenserfahrungen befragt, erklärten alle drei Zeitzeugen, dass sie lebenslang von christlichen Elternhäusern geprägt worden seien. Obwohl G. Bausch 1938 in Tübingen in die Schule ging, bekam er vom Brand der Synagoge nichts mit. 1939 erhielt er einen Brief von seinem Religionslehrer Bohnet, daß er der Einzige sei, der noch außerhalb der Reihen des Jungvolkes stehe. G. Bausch ist daraufhin umgehend eingetreten. Zum Geländespiel ging es auf die Alb nach St. Johann und anderswo. Eine Beeinflussung durch die NS-Propaganda konnte er nicht feststellen. In Erinnerung blieb ihm auch, daß 1940 nach dem Sieg über Frankreich wochenlang die Kirchenglocken geläutet wurden. Immer wieder war von Lebensbegegnungen die Rede. 1943 hat der spätere Pfarrer Gerhard Gläser (Jahrgang 1918) in Wannweil Jugendkreis gehalten. Wenig später kam G. Bausch zur Flak (Flugabwehr) nach Karlsruhe. Im Oktober 1944 war er beim RAD (Reichs-Arbeitsdienst) in Ulm. Den Staatsakt in Ulm zur Beerdigung des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel (1891 bis 1944) erlebte er in einer Abordnung junger Arbeitsdienstler mit. Die wahren Hintergründe erfuhr G. Bausch erst nach Kriegsende. Die Einberufung zur Wehrnacht erfolgte am 30. Nov. 1944. Daß Deserteure, entehrt durch das Abreißen von Schulterstücken und Koppel, erschossen wurden, fand F G. Bausch damals richtig. Zwar wurde er noch im Schießen ausgebildet und an die Stellung im Schwarzwald befohlen. Die Heimkehr ins Wannweiler Pfarrhaus mußte er selber organisieren, d. h. bei Nacht laufen und bei Tag sich verstecken und schlafen. Die Wehrmachts-Uniform und die Gasmaske vergrub er im Wannweiler Pfarrgarten. Wegen dieser Erlebnisse wurde G. Bausch überzeugter Pazifist. In seiner späteren Pfarrerlaufbahn half er den Kriegsdienstverweigerern. G. Bausch lebt 2010 rüstig in Herrenberg.
Die zweite Zeitzeugin war Dorothee Gohl geb. Schüle, Jahrgang 1932. Ihr Vater war von 1948 bis 1969 Pfarrer in Wannweil. In seine Amtszeit fiel die einschneidende Innenrenovation von 1955. Die Wannweiler hatten sich an der dunklen neugotischen Original-Ausstattung des Heinrich Dolmetsch (1847 bis 1908) satt gesehen. Der Reutlinger Manfred Wizgall (1914 bis 1976), in den 1950ern ein vielbeschäftigter Architekt auch in der hohenzollerischen Diaspora, bestimmte die Farbe der hölzernen Emporenteile. Für die einen war "rot" die Farbe des "Antichrist", für die Kontrahenten die Farbe des Blutes Christi". Auch das Motiv mit den weidenden Hirschen wurde 1955 übermalt. Manche Wannweiler träumen noch 55 Jahre später davon.
Der Ehemann der Pfarrerstochter Dorothee geb. Schüle, Ulrich Gohl, Jahrgang 1930, hat als Tübinger Stiftler zeitweise den Wannweiler Kirchenchor geleitet. Herr Gohl hat auch das Kirchenlied Nr. 609 komponiert (Text und Melodie). Dies fand im aktuellen Gesangbuch Aufnahme. Herr Gohl sagte, daß über die Publikation andere entschieden hätten und er nichts beeinflußt hätte.
Mit 16 Jahren kam Dorothee Schüle 1948 nach Wannweil. Der Vater sah die bessere Bahnverbindung bei dieser Pfarrstelle als Vorteil an. Die "Somaschell" in Gönningen bot weniger Mobilität. Die Pfarrerstochter wunderte sich, daß mehrere Schulbuben beim Einzug der Familie Hand anlegten. Ein Zeitzeuge aus dem Publikum meldete sich und erklärte, dass der Lehrer sie dazu aufgefordert hatte. Im Pfarrhaus wohnten neben der großen Pfarrfamilie auch noch Studenten. In den 1950ern herrschte noch Wohnraum-Zwangsbewirtschaftung. Für alle gab es nur einen Trockenabort, ferner auch nur einen Wasserhahn. Ein Bad gab es auch nicht. Zum Waschen stand eine Waschgarnitur bestehend aus Kanne und Waschschüssel bereit. Statt dessen gab es ja im 1936 erbauten Gemeindehaus die Wannenbäder. Darüber ranken sich manche Anekdoten. Im Pfarrgarten stand noch eine gußeiserne Wasserpumpe. In Erinnerung blieb auch der anstrengende Waschtag, der im Pfarrhaus von 5 Uhr morgens bis mittags dauerte. Die Pfarrfrau Schüle hatte immer ein (Haushalts-)" Hilfe", d. h. ein Dienstmädchen. Für das Pfarrhaus typische Räume waren das "Säle" unten und das "Studierzimmer" mit der Bibliothek des Pfarrers. Generationenlang besaßen die Wannweiler Familien ja nur wenige Bücher, meistens erbaulichen Inhalts. Auch die Wohlgerüche, die aus der benachbarten Bäckerei Wollpert drangen, fanden Erwähnung (Nachfolgebau seit 1988 Martin-Luther-Haus). Das villenähnliche Haus der langjährigen Kirchenchorleiterin und Organistin Thekla Schenkel beeindruckte mit der Aufschrift "Pilger zur Ewigkeit", die 2010 noch vorhanden ist. Natürlich zog es die junge Dorothee nach Tübingen. Dort gab es eine Jugendkantorei und Tanzstunde. Dazu wurde sie von dem Pfarrersohn Albrecht Bausch eingeladen. Im Gedächtnis haften blieb auch der Heischebrauch des Glockens am Morgen des Heiligen Abend. Beendet wurde der Zug durchs Dorf bei der Fabrikantenfrau Hermann, die am 24. Dezember Geburtstag hatte.
Die Fortsetzung folgt morgen.
Botho Walldorf
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